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02.11.15 –
Es ist aktuell eine große Herausforderung, gute Bedingungen für asylsuchende Menschen sicherzustellen. Vielerorts ist die notwendigste Versorgung nur noch unter dem permanenten Einsatz zahlreicher Ehrenamtlicher möglich. Die gegenwärtige Situation ist das endgültige Versagen konservativer Asylpolitik: einer Politik nach dem Grundsatz, dass Asyl de facto nur noch an den Außengrenzen Europas zu gewährleisten sei und dabei diese Grenzen immer mehr und mehr aufrüsten will. Statt einer Diskussion darüber, wie die europäischen Binnen- und Außengrenzen unüberwindbar gemacht werden können, ist die dringlichste Aufgabe dieser Tage und Wochen, die Situation aller Asylsuchenden zu verbessern und eine haltbare Situation für den Winter zu schaffen.
Wir distanzieren uns mit aller Deutlichkeit von jenen Stimmen, die mit Verweis auf eine vermeintlich
homo-, transphobe oder antifeministische Kultur in den Herkunftsländern versuchen, Stimmung innerhalb der Regenbogen-Community gegen Asylsuchende zu machen. Insbesondere, da jene konservativen und anti-aufklärerischen Kreise, die sich jetzt auf diese Weise zu Wort melden, sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten keineswegs für die Gleichstellung und Antidiskriminierung von LSBTTI-Menschen eingesetzt haben. Solche Äußerungen sind scheinheilig und absurd. Sie versuchen, marginalisierte Gruppen gegeneinander auszuspielen. Dies lehnen wir entschieden ab. Die Hilfsbereitschaft der vergangenen Tage und Wochen, auch und insbesondere in der LSBTTI-Community zeigt, dass die meisten Menschen, die sich gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung einsetzen, selbstverständlich auch an der Seite von Asylsuchenden stehen.
Wir fordern, zur Verbesserung der Situation von queeren Geflüchteten folgende Maßnahmen mitzudenken:
1. Sichere Räume
In Erstaufnahmestellen und Asylunterkünften bedarf es sicherer Rückzugs- und Schutzräume für Menschen, die Gewalt- und Diskriminierungserfahrung gemacht haben oder nach wie vor machen, insbesondere für Frauen, Kinder und LSBTTI-Menschen. Das Personal und hier insbesondere das Sicherheitspersonal muss für die besondere Gefährdungssituation von Menschen, die in ihren Herkunftsländern aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität bedroht waren und die hier im Rahmen des Asylverfahrens geschützt werden müssen, sensibilisiert werden.
Wir fordern, LSBTTI-Geflüchtete als besonders schutzbedürftige Gruppe bevorzugt einzeln in Wohnungen unterzubringen. Dies muss insbesondere dann erfolgen, wenn LSBTTI-Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften Diskriminierung ausgesetzt sind und in ihrer körperlichen Unversehrtheit bedroht werden. Wir begrüßen Initiativen wie die der Schwulenberatung in Berlin, perspektivisch eigene Unterkünfte für LSBTTI-Geflüchtete einzurichten. Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, LSBTTI-Asylsuchende in Regionen unterzubringen, wo eine unterstützende LSBTTI-Community existiert. Dadurch können sie u.a. eine größere Anzahl von spezifischen Hilfsangeboten wahrnehmen.
2. Niedrigschwellige Beratungsangebote & Versorgung
Niedrigschwellige Beratungsangebote erfüllen eine sehr wichtige Aufgabe darin, LSBTTIAsylsuchende
noch vor Stellung des Asylantrags zu unterstützen. Hierfür müssen Konzepte zum spezifischen Beratungsbedarf erarbeitet werden und flächendeckend bereit stehen. Beratungsstellen müssen personell und finanziell ausreichend ausgestattet werden, um sich auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Die Fallzahlen steigen bereits und Strukturen müssen dort wo notwendig komplett neu aufgebaut oder erweitert werden.
Es ist darüber hinaus sinnvoll, für Helfer*innen Schulungen anzubieten. Hierfür kann, wenn möglich, bereits auf existierende ehrenamtliche Strukturen zurückgegriffen werden. Auch ist es wichtig, geeignetes Informationsmaterial und Online-Angebote für LSBTTI-Geflüchtete so greifbar zu machen, dass diese sich bei der Entgegennahme nicht outen müssen, und bereits existierende Informationsmaterialien in weitere Sprachen zu übersetzen. Für transsexuelle Menschen fordern wir wiederum eine spezifische medizinische Versorgung,die beispielweise die Verschreibung von notwendigen Hormonen umfasst.
3. Hauptamtliche Unterstützung für ehrenamtliche Strukturen
Die große Hilfsbereitschaft und das zahlreiche Engagement sind großartig. Vielerorts engagieren sich auch bereits ehrenamtliche Strukturen für LSBTTI-Asylsuchende. Dieses ehrenamtliche Engagement darf aber für zuständige hauptamtliche Strukturen keine Entschuldigung sein, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Deswegen fordern wir, bestehende Initiativen ausreichend mit hauptamtlichen Strukturen zu unterstützen. Falls Vereinsstrukturen existieren, können zusätzliche Mittel bereit gestellt werden.
4. Rechtliche Hürden abbauen
Trotz eines anderslautenden Urteils des EuGH müssen LSBTTI noch immer ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu Beginn des Asylverfahrens als Fluchtgrund geltend machen, um als glaubwürdig zu gelten. Häufig fliehen LSBTTI-Asylsuchende aus Ländern, die ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität kriminalisieren, pathologisieren, verfolgen oder unter harte Strafen stellen. Viele dieser Menschen haben schwere Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen und sind traumatisiert. Wir empfinden es als eine nicht gerechtfertigte Hürde, dass von diesen Menschen verlangt wird, sich sofort gegenüber Behörden zu öffnen und ihre Geschichte stringent darzulegen. Es muss endlich berücksichtigt werden, dass LSBTTI-Flüchtende im Verfahren ihre sexuelle Identität auch zu späteren Zeitpunkten noch einbringen können, nachdem sie Gelegenheit hatten, ggf. entsprechende Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen, oder sich anderweitig über ihre Rechte informieren konnten.
Dabei muss auf die besondere Situation der jeweiligen Gruppen Rücksicht genommen werden: Homosexuelle Männer werden in vielen Ländern dezidiert und per Gesetz verfolgt und bestraft. Lesbische Geflüchtete betrifft diese Form der Existenzbedrohung weniger häufig, dafür sind sie Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und anderen frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen
ausgesetzt. Für Intersexuelle besteht bis heute in vielen Staaten kein Schutz vor genitalverstümmelnden Operationen, geschweige denn die rechtliche Anerkennung. Bisexuelle haben mit Vorurteilen behördlicherseits zu kämpfen, ihr Begehren sei weniger asylwürdig, denn sie hätten ja eine Wahl. Transgender und Transsexuelle werden in vielen Ländern die Änderung ihrer Ausweisdokumente sowie geschlechtsangleichende Maßnahmen verweigert oder nicht fachgerecht umgesetzt.
Häufig werden auch Paare auseinandergerissen und getrennt untergebracht, weil sie vor der Verteilung auf ihre Zusammengehörigkeit nicht hingewiesen haben bzw. von ihren Rechten nichts wissen. Hier ist bei der Unterbringung die besondere Situation von LSBTTI-Paaren, denen es in ihren Herkunftsländern nicht möglich war, eine rechtliche Verbindung einzugehen, mit größtmöglicher Flexibilität zu berücksichtigen. Das für Flüchtlinge eingesetzte Personal inklusive der Dolmetscher*innen, egal ob in Unterkünften, Sozial- und Jugendämtern, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder bei den Ausländerbehörden muss für die besondere Situation von LSBTTI sensibilisiert werden. Wir fordern insbesondere, dass bei der Anhörung zum Asylantrag speziell geschulte Ansprechpartner* innen für LSBTTI zur Verfügung stehen.
5. Staaten, die Liebe unter Strafe stellen, bieten keine Sicherheit
Wir lehnen das Konzept der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten ab. Denn in der Vergangenheit wurden Staaten als sicher erklärt, in denen LSBTTI massiver staatlicher oder nichtstaatlicher Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Für jeden Menschen, der Asyl sucht, müssen die individuellen Fluchtgründe berücksichtigt werden. Zur Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens muss jede asylsuchende Person über die Stufen des Verfahrens ausreichend juristisch informiert und bei individuellem Bedarf psychologisch betreut werden.
Gegenwärtig gelten zwei Staaten - Senegal und Ghana - als sichere Herkunftsstaaten, obwohl dort homosexuelle Handlungen unter Strafe stehen. Die große Koalition ist bisher nicht bereit, beide Staaten von der Liste sicherer Herkunftsstaaten zu nehmen. Wir begrüßen daher auch die entsprechende Initiative der europäischen Grünen, ein Vertragsverletzungsverfahren bei der EU-Kommission gegen Deutschland anzustoßen, damit Ghana und Senegal nicht länger als sichere Herkunftsländer gelten. Es widerspricht fundamentalen Menschenrechten, wenn von Menschen verlangt wird, ihre sexuelle Identität zu verstecken. Dies bekräftigte vor kurzem der Europäische Gerichtshof. Sogenannte sichere Herkunftsstaaten mit diskriminierender Gesetzgebung gegen LSBTTI und Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure müssen unverzüglich aus der Liste der sicheren Herkunftsstaaten gestrichen werden. Die Praxis sicherer Herkunftsstaaten ist deshalb hinsichtlich ihrer Wirksamkeit regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen, sichere Herkunftsstaaten sind regelmäßig zu evaluieren.
Aus vielen schrecklichen Beispielen, wie die der Sinti und Roma in den West-Balkanstaaten, ist ersichtlich, dass ausgehend von einem gesellschaftlichen Klima und fehlender staatlicher Unterstützung, gesellschaftliche Minderheiten offen diskriminiert werden. Dort, wo dies auch auf LSBTTI zutrifft, gilt es für Deutschland und die gesamte EU zu handeln und Einfluss zu nehmen. Im Hinblick auf die jüngste Erweiterung der sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ sollte die Gruppe von LSBTTI mit in das von der Bundesregierung ausgehende Programm zu Unterstützung von gesellschaftlichen Minderheiten in den Herkunftsländern integriert werden. Perspektivisch streben wir eine Rückkehr zur Praxis der individuellen Prüfung des Rechts auf Asyl an.
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